Peter Kremer M.A. Geogr./Philos.

Gewiß pocht manchem, der sich zum ersten Male in den
Meereswellen spült, das Herz“
Ein kleiner Blick in die Anfänge des Langeooger Seebad-Betriebes

von Peter Kremer M.A., erschienen im Langeoognews Inselmagazin 2009

Dreh- und Angelpunkt des frühen Kurlebens: Die „Abtei“
(Alle Bilder: Sammlung Tongers)

Eine recht eigenartige Wendung nahm die Geschichte der Insel Langeoog, als im Sommer 1830 der Auricher Amtsrichter von Vangerow die Insel betrat, und erklärte, dass er ein Kurgast sei. Er wolle sich ein paar Wochen lang vom Stadtleben erholen, und ein paar kalte Bäder in der Nordsee nehmen. Er suche eine angemessene Unterkunft. Dabei wusste der Amtsrichter, dass er auf Langeoog nicht viel zu erwarten hatte. Die wenigen Familien dort waren arm und lebten in einfachen Anbauernhäusern, gebaut aus Strandgut und Soden. Sie hatten ein bisschen Vieh, unterhielten kleine Gemüsegärten, und sammelten Möweneier. Gästehäuser hatten sie nicht, und Badeinrichtungen schon gar nicht. Und ausgerechnet hier wollte sich der Amtsrichter erholen? Warum war er nicht nach Norderney gefahren, wo es schon seit über 30 Jahren ein fertig eingerichtetes Seebad mit guten Betten und allem Komfort gab?

Im 19. Jh. hatte der englische Arzt Richard Russell (1687-1759) eher zufällig beobachtet, dass die Küstenbewohner an einigen der damals verbreiteten Krankheiten, z.B. der heute selten gewordenen Scrofulose, weit weniger häufig erkrankten. Er führte das auf die Chemie des Seewassers zurück, und stellte eingehende Untersuchungen an. Schon bald galt die Heilkraft des Meeres als wissenschaftlich erwiesen. An den Küsten Englands entstanden die ersten Badeorte, z.B. in Margate, Southampton und Brighthelmstone (heute Brighton).

Das erste deutsche Seebad: An Ostsee oder Nordsee?
Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), ein etwas kränklicher Physiker an der Göttinger Universität, bereiste als junger Mann mehrmals die neuen englischen Bäder. Von dem Erfolg begeistert, machte er sich dafür stark, auch in Deutschland solche Bäder einzurichten. An Nord- und Ostsee gab es schließlich Möglichkeiten genug. Vieles sprach dafür, es zunächst an der Ostsee zu versuchen. Wegen der fehlenden Gezeiten und der leichteren Brandung galt sie gemeinhin als weniger wild und gefährlich, zumal für unerfahrene Stadtmenschen. Außerdem konnte man alle erforderlichen Badeeinrichtungen direkt ans Wasser bauen. 1793 wurde deshalb das erste deutsche Seebad an der Ostsee eingerichtet, in Doberan bei Heiligendamm.

Doch die chemische Zusammensetzung des Wassers sprach für die Nordsee. Der Anteil an wirksamen Salzen und anderen Mineralien war hier deutlich höher. Hinzu kam, dass sich gerade die „Wildheit“ der Nordsee als besonders heilsam erwies: „Die mächtigere Brandung oder der Wellenschlag kann […] um so eher zum Douche und Sprützbad dienen. […] Gleich einem electrischen Schlage erregen die Kälte, […] und der Wellenschlag anfangs eine Erschütterung des ganzen Menschen, der bald ein Gleichgewicht und die größte Harmonie aller Kräfte folgt, woraus ein sinnliches und geistiges Wohlbehagen zu entstehen pflegt.“, schrieb 1822 Dr. Johann Ludwig Chemnitz aus Jever, der im Sommer Badearzt auf Wangerooge war.

Friedrich Wilhelm von Halem, Mediziner und „Landphysikus des Fürstenthums Ostfriesland“ hielt Norderney für einen geeigneten Standort. Er hatte sich Bad Doberan angesehen und war zu dem Schluss gekommen, dass es sich wegen der vorzüglichen Heilkraft der Nordsee sehr wohl lohne, ein paar Standortnachteile in Kauf zu nehmen. Daraufhin wurde 1797 auf Norderney das erste Seebad an der südlichen Nordseeküste eingerichtet.

Ein im damaligen Sinne gewagtes Postkartenmotiv.
Der Blick auf badende Damen war den Herren strengstens untersagt.

Eigenartige Gäste auf den ostfriesischen Inseln
Zu eigenartigen Begegnungen muss es zwischen den Insulanern und den ersten Gästen gekommen sein. Hier die Insulaner mit ihrem einfachen Leben, dort die vornehmen Herrschaften und Damen von Stand, die sich ausgerechnet in diesem kargen Lebensraum erholen wollten. So einträglich sich dieser Wirtschaftszweig zumindest im Sommer entwickelte, so veränderte er Inseln und Insulaner. Die Gäste berichteten von fernen Ländern und Entdeckungen, von großer Politik, von den Wissenschaften, den schönen Künsten und der Religion. So eröffneten sich den Insulaner zwar neue Horizonte, aber auch Potenzial für handfeste Identitätskrisen, wie z.B. Heinrich Heine zu Beginn des 19. Jh. skeptisch von Norderney berichtet.

Auch die Langeooger hatten das Treiben dort natürlich im Auge. Sie verkauften z. B. Möweneier nach Norderney. Ab wann es erste Überlegungen gab, auch auf Langeoog ein Seebad einzurichten ist nicht bekannt. Fest stand, dass das aus vielerlei Gründen zunächst gar nicht möglich gewesen wäre. Um 1800 herum lebten auf Norderney 563 Insulaner in 106 Häusern, auf Langeoog dagegen nur 40 Insulaner in 12 Häusern. Das Norderneyer Seebad wurde zudem finanziell vom ostfriesischen Fürstenhaus gefördert, während Langeoog und die anderen Inseln alle Mittel in Eigeninitiative aufbringen mussten. Einzig Wangerooge, das unter Herrschaft der Oldenburger stand, kam ebenfalls in den Genuss fürstlicher Subventionen. Schon 1804 wurde auch dort ein Seebad eingerichtet.

Obwohl es für die Einrichtung eines Bades gar nicht so viel brauchte – ein Häuschen mit ein paar Badewannen, einen Kessel zum Bereiten warmer Bäder, einige Umkleidemöglichkeiten am Strand, sowie ein paar freie Betten – überstieg das die Möglichkeiten der verarmten 40 Insulaner deutlich. Dazu kam ein schwerwiegender Standortnachteil: Norderney war über die Verkehrsknotenpunkte Emden und Norden gut erreichbar. Bensersiel und Westeraccumersiel waren klein und lagen abseits der neuen Verkehrswege, die im Zuge der Industrialisierung entstanden.

Zwei ganz eigene Welten:
Eine erholungssuchende Dame von „Stand“ und Langeooger Bäuerrinnen.

Nach dem Wiener Kongress: Gäste kommen ganz von allein
Die napoleonischen Kriege beendeten alle Überlegungen. Während der französischen Besatzungszeit kam jeglicher Fremdenverkehr zum Erliegen. In den Konversationshäusern Norderneys waren französische Soldaten untergebracht, auch auf Langeoog waren am Ostende Franzosen stationiert. Sie sollten die Kontinentalsperre zu England überwachen, aber es heißt, dass der Schmuggel auf Langeoog blühte, und den Insulanern zu einem bescheidensten Wohlstand verhalf.

Nach dem Wiener Kongress 1815 kam der Seebadebetrieb auf Norderney und Wangerooge schnell wieder auf die Beine, der Schmuggel dagegen brach zusammen. Doch die Neuordnung Europas brachte auch neue Stände und Gesellschaftsstrukturen mit sich, und bald war es nicht mehr nur der Adel, sondern zunehmend auch betuchte Bürger, die auf Reise gingen. Das bescherte der südlichen Nordsee viele neue Gäste. Von Langeoog heißt es, dass ab den 20er Jahren vermehrt Gäste am Ostende festgemacht hätten, weil es sich dort prima Kaninchen jagen ließ, und weil die dortige Domäne eine Schankwirtschaft betrieb. Der Fremdenverkehr drängte sich den Langeoogern förmlich auf. Nur leider benötigte es längst weit mehr, als nur ein paar Wannen und Betten, um ein florierendes Seebad zu unterhalten. Mit den Gästezahlen stiegen auch die Ansprüche. Musik, Tanz, Konversation, Billard, feine Speisen und Getränke, Kurkonzerte, Feuerwerk mit allem drum und dran, viel weniger sollte es für viele Gäste bald nicht mehr sein. Langeoog hatte nicht einmal eine Kirche und erst seit 1815 ein Schulhaus. In der furchtbaren Februarsturmflut 1825 ging es jedoch gleich wieder verloren, zusammen mit vielen Dünenmetern, und der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Amtsrichter von Vangerow: Offizieller „Vater“ des Langeooger Seebadbetriebes
Dann nahm Amtsrichter von Vangerow die Sache in die Hand. Denn er kam 1830 nicht nur als Gast, sondern verfolgt von der Idee, trotz alledem auch auf Langeoog ein solch einträgliches Seebad einzurichten. Er absolvierte gewissermaßen eine „Probekur“, um zu sehen, ob Langeoog mit seinen ärmlichen Verhältnissen überhaupt infrage käme, was im Augenblick möglich war, woran es am meisten haperte. 22 Familien lebten damals auf Langeoog.

Sooo viel hat sich den letzten 100 Jahren gar nicht verändert:
Männer im Herrenbad. Links: Badewärter Börgmann.

Von Vangerow erkannte das Potenzial der Insel, und brachte die Dinge so gut es ging auf den Weg. Die Mittel waren bescheiden, und so kamen in den Anfangsjahren nur wenige Gäste. 1848 verirrte sich gar nur einziger Gast nach Langeoog. Der Komfort, den die Langeooger in den Anfangsjahren bieten konnten, war einfach zu gering. Erst 1856 wurden die ersten beiden Badekarren angeschafft, bis dahin mussten sich die Gäste in alten Wracks am Strand zum Bade umziehen. Die Gäste wohnten ausnahmslos in den Stuben der Insulaner, die ihrerseits für ein paar Wochen in den Stall umzogen, ehe 1863 das erste reine Gästehaus eröffnete. Immerhin 123 Gäste konnten die Insulaner im gleichen Sommer begrüßen.

Richtig aufwärts ging es aber immer noch nicht. In Berichten von Pastor Hoffmann (1862) und Baurat Taaks (1880) wird der mangelnde Komfort, sowie die mangelnde Bereitschaft der Insulaner, alles erdenkliche für die Gäste zu tun, dafür verantwortlich gemacht. Die wenigen Reiseberichte, die erhalten sind, zum Beispiel von dem Philosophen Rudolf Eucken, der als Kind zwischen 1850 und 1860 mehrmals die Insel bereiste, weisen jedoch darauf hin, dass die Gäste insgesamt sehr zufrieden waren.

1885: Mit dem Bau des Hospizes wird der Seebadbetrieb professionell und modern
Zu einem modernen Seebad, wie wir es heute kennen, entwickelte sich Langeoog erst, als 1885 das Hospiz des Klosters Loccum eröffnete, das im Anschluss den gesamten Badeverkehr übernahm und professionell ausbaute. Die Industrialisierung Mitteleuropas und die Erschließung neuer Verkehrswege bedeuteten einen weiteren Entwicklungsschub. Im Sommer des gleichen Jahres gab es erstmals eine tägliche Fährverbindung durch ein kleines Segelschiff, die Tjalk „Curator“, 1886 wurde eine Postagentur mit Telegraphenbetrieb eingerichtet.

1888 erhielt Esens Anschluss an das Schienennetz, die Dampfschifffahrtsgesellschaft „Esens – Bensersiel – Langeoog“ wurde gegründet, die Gäste setzten jetzt mit dem Dampfer „Piet Hein“ auf die Insel über, 1889 gar mit dem Schaufelraddampfer „Stadt Esens“. Im flachen Watt vor Langeoog stieg man zum „Ausbooten“ in die alte Tjalk um, bevor landnah ein Pferdefuhrwerk bereitstand, die Gäste durch Schlick, Sand und Salzwiese ins Dorf zu fahren. 1892 wurde eine erste Landungsbrücke auf offener Reede in Betrieb genommen, 1901 löste eine auf Schienen gesetzte Pferdebahn mit offenen und geschlossenen Wagen die beschwerliche Fahrt mit dem Fuhrwerk ab.

Links im Bild: Badewärter Casper Otten.

Das Hospiz baute derweil die Badeinrichtung aus und kümmerte sich um das körperliche und seelische Wohlbefinden der Gäste. 1888 wurde ein Badekommissariat gegründet, 1890 eine neue, größere Kirche eingeweiht (Die heutige ev. Inselkirche), und in den Dünen eine Warmbadeanstalt gebaut. Überall entstanden neue Unterkünfte. Ganze 60 Gebäude umfasste das Inseldorf bereits. Schon 1887 verbrachten 1216 Gäste den Sommer auf der Insel. Langeoog hatte den Anschluss an die Moderne geschafft.

Strandleben damals Dreh- und Angelpunkt des Langeooger Badelebens war damals das 1885 erbaute Aussichtszelt „Abtei“, ein früher Vorläufer der heutigen Strandhalle. Hier kehrte man nicht nur ein und pflegte Konversation, hier kaufte man auch die Karten, die zum Bade in der Nordsee oder in den Wannen des Warmbades berechtigten.

Der Badestrand bestand den preußischen Badetugenden gemäß aus Herren- und Damenstrand, wo jeweils die Bäder genommen wurden. Sie waren durch den langen „Neutralen Strand“ getrennt, der von Personen beiderlei Geschlechts betreten werden durfte. Am Herrenstrand wachten der Bademeister mit seinen Bade-wärtern über den korrekten Ablauf, am Damenstrand die Badefrau und ihre Wärterinnen. Der Beginn der Badezeit wurde durch das Hissen von Flaggen angezeigt. Wollte man/frau ein Bad in der Nordsee nehmen, löste man seine Badekarte beim Strandwärterhäuschen ein, wartete, bis man an der Reihe war, bestieg eine der Badekutschen oder nutzte eine der anderen Umziehmöglichkeiten, ließ sich, wie zumeist am Damenstrand, von den Wärterinnen die Badekutsche in die Wellen schieben, stieg aus, nahm ein paar Wellen lang ein tüchtiges Sprützbad, kletterte zurück in den Karren, trocknete sich ab und zog sich um. Die Badesachen konnte man zum Trocknen selbst mitnehmen, oder den Wärterinnen übergeben.

Neben den Badekarren standen auch feststehende Badehäuschen von ähnlichem Format, sowie am Herrenstrand ein Badehaus mit 18 hölzernen Verschlägen für Knaben als Umkleidemöglichkeiten zur Verfügung. Strandkörbe gab es in den Anfangsjahren noch nicht. Die traten ihren Siegeszug erst Ende des 19. Jh. an.

Ein neuer Berufszweig für Insulanerinnen: Badefrauen.

Baden im Meer oder im Warmwasserbad
Dieser für heutige Verhältnisse vielleicht etwas befremdliche Umgang mit dem Bad im Meer erklärt sich aber nicht allein aus den damaligen Moralvorstellungen, sondern auch aus den Erfahrungen. Im Wellenbaden

geübt war kaum jemand, Schwimmen konnte fast niemand. Die Nordsee wurde wie eine Arznei angewendet, mit dessen Risiken und Nebenwirkungen man vorsichtig umzugehen hatte. Dr. Chemnitz betonte, dass ein falsches Maß oder eine falsche Anwendung gar zum Tode führen konnte.

Ein Langeooger Reiseprospekt von 1902 gibt eine ganze Reihe von Ratschlägen und Baderegeln, damit das Bad in der Nordsee ein Erfolg werde. So sei erst dann mit dem Baden zu beginnen, wenn man sich von den Reisestrapazen erholt habe, des weiteren sei unmäßiger Gebrauch zu vermeiden. „Kräftige Naturen setzen etwa jeden 10. Tag aus. Personen von geringer Widerstandskraft baden nur jeden zweiten oder dritten Tag. … Das einzelne Bad werde bei starkem Wellenschlag nicht über 6 Wellen ausgedehnt. Zur Erzielung des gewünschten Erfolges genügen etwa 3 kräftige Wellen.“

Neben der Abtei stand eines der beiden Warmbäder. Hier gab es kein gemeinsames Schwimmbecken, sondern lediglich Badewannen, in denen man warme Seewasserbäder nehmen konnte. Über einen Windmotor wurde Wasser durch im Boden liegende Rohre von der See in ein Becken der Anstalt gepumpt, von da aus durch eine Rohrleitung in die Dampfkessel und schließlich in die Badewannen geleitet. 1892 gab es noch ein zweites Warmbad, das privat von Johann Adam Leiß betrieben wurde. Es befand sich hinter dem heutigen Bahnhof, ungefähr im Bereich Am Wall/Meedenweg.

Heute ist der Seebadbetrieb mit Langeoog und den anderen ostfriesischen Inseln so tief verwurzelt und selbstverständlich, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie fremd sich Gäste und Insulaner vor gut 200 Jahren gegenüber gestanden haben müssen. Nicht weniger bemerkenswert ist, dass sich der Badebetrieb schon vor 100 Jahren so gut und so modern entwickelt hatte, dass er dem heutigen sommerlichen Inseltreiben ähnelt, wie ungezählte alte Postkartenmotive auf unfreiwillig amüsante Weise erzählen.

Die Langeooger Warmbadeanstalt um ca. 1900.