Peter Kremer M.A. Geogr./Philos.

Schipp up Strand“
Die Entstehung des Seenotrettungswesens in Ostfriesland

von Peter Kremer und Sven Klette

Ein schwerer Sturm lag über der Nordsee, als am 10. Februar 1920 die Bark „Paul“ auf dem „Westriff“ in der Otzumer Balje zwischen Langeoog und Spiekeroog strandete. Die „Paul“ hatte Steinkohle geladen, und war eigentlich auf dem weg von Hull/England nach Kopenhagen. „Schipp up Strand!“, hieß dann der Ruf unter den Seenotrettern, auf zur Rettung der Besatzung.

Als ein Rettungsversuch mit einem sehr gut ausgestatteten Motorrettungsboot von Neuharlingersiel aus scheiterte, versuchten es Vormann Casper Otten und seine Mannschaft von der Rettungsstation am Langeooger Ostende aus. Rasch wurde das Ruderrettungsboot „Dr. G. Krause“ mit einem von vier Pferden gezogenen Fuhrwerk in die Brandung gesetzt, dann legten sich die Männer in die Riemen. Es waren neben Vormann Casper Otten, „A. Janssen, J. Wilken, Th. Döring, A. Pauls, O. Leiss sen., H. Otten, H. Kuper sen., und B. Börgmann“.

Die Rettung gestaltet sich als schwierig. In das Logbuch der Rettungsstation schreibt Otten: „Gelangten auf dieser [Rettungsfahrt] unter sehr erschwerenden Umständen um 10 Uhr auf der Strandungsstelle an. Fanden hier das Schiff ständig von der See überflutet und in den einzigen noch stehenden Mast 7 schiffbrüchige Menschen. Konnten von der Seeseite der Brandung wegen eine Verbindung nach dem Schiff nicht herstellen und mußte dies von der Lufseite her geschehen, welches unter großer Gefahr für Boot und Besatzung notdürftig gelang. Holten sämtliche 7 Personen, darunter 1 Frau mittels einer Leine durchs Wasser an Bord ins Boot. Ein Mann war dem Tode anscheinend nahe. Damit die Geretteten möglichst schnell weitere Hilfe bekamen, setzten wir dieselben auf dem Harlingersieler Schleppdampfer über, der sie schnellstens nach Harlesiel brachte.“

Am Schluss heißt es noch, dass das kleine Boot sich außerordentlich gut bewährt habe. Für diese Rettungstat im Februar 1920 erhielt Vormann Casper Otten die Silberne Prinz-Heinrich-Medaille. Zum Zeitpunkt der Rettung im Februar 1920 war der Langeooger Vormann schon seit 35 Jahren im Amt, und noch zwei weitere sollten folgen.

Die Gründung des ostfriesischen Rettungswesen
1920 war die Rettungsstation Langeoog bereits fast 60 Jahre alt. 1861 war sie – zeitgleich mit einer Station auf Juist – vom „Verein zur Rettung Schiffbrüchiger an den ostfriesischen Küsten eingerichtet“ worden, der nur kurz vorher, am 2. März 1861 in Emden gegründet worden war. Die Rettungsstationen auf Langeoog und Juist waren somit die ersten an der deutschen Nordseeküste. Die Gründung des Vereins geht auf Oberzollinspektor Georg Breusing (1820 – 1882) zurück. Noch im selben Jahr folgten Vereine in Bremerhaven und Hamburg. Alle drei gingen später in der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ (DGzRS) auf, die am 29. Mai 1865 mit Sitz in Kiel gegründet wurde.

In England gab es zu dieser Zeit allerdings schon ein sehr erfolgreiches Rettungswesen. 1790 war es zunächst als staatliches Rettungswesen gegründet worden, ehe es 1824 an den sich ausschließlich durch Beiträge und Spenden finanzierenden „Verein zur Rettung Schiffbrüchiger“ überging. Der Erfolg war großartig: 1850 gab es bereits 90 Ruderrettungsboote, und bis 1863 wurden mehr als 13.000 Menschen aus Seenot gerettet.

In Deutschland war Adolph Bermpohl (1833 – 1887) eine der treibenden Kräfte für die Idee des Rettungswesens. Bermpohl war als Navigationslehrer in Vegesack und Emden tätig, und forderte im Oktober 1860 in verschiedenen Artikeln in der „Vegesacker Wochenschrift“ die Gründung eines Vereins nach englischem Vorbild. Er reagierte damit auch auf den Untergang eines Schiffes vor Borkum im September, bei der alle neun Seeleute ums Leben kamen, ohne dass die Insulaner eingegriffen hatten. Er schrieb: „Ist es nicht eine Schande für ganz Deutschland, dass so etwas an seinen Küsten vorkommen kann? Warum werden, wie in England, nicht auch an unseren Küsten Rettungsboote stationiert, verbunden mit einer fortwährenden Küstenbewachung?“

Und der Bedarf stieg jährlich. Nie hatte es so viele Strandungen gegeben wie Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Schiffsverkehr hatte durch die Industrialisierung stark zugenommen, aber es fuhren nicht nur immer mehr und immer größere Schiffe, es befanden sich auch immer öfter sehr viele Menschen an Bord, wie im Falle des Dreimasters „Johanne“, der im November 1854 bei schwerem Sturm vor Spiekeroog strandete. Sie kam aus Bremen, und war mit rund 200 Auswanderern an Bord auf dem Weg nach Amerika. 84 Menschen fanden den Tod. Der Spiekerooger Pastor Doden schrieb in seinem Kirchbuch einen bewegenden Bericht über dieses furchtbare Unglück, das die Insulaner entsetzt am Strand verfolgen mussten, ohne Hilfe leisten zu können.

Die Insulaner: Hilflos oder gleichgültig?
Adolph Bermpohl aber bezog sich in seiner Forderung auf den Untergang der Brigg „Alliance“, die am 10. September bei schwerem Sturm auf dem gefürchteten Borkumriff gestrandet war. Wieder gab es vom Strand aus keine Hilfe, und die neun Mann Besatzung kamen in den Fluten um. Doch diesmal war etwas anders als sonst. Es war noch Sommer, als die „Alliance“ strandete, und seit einigen Jahren kamen viele Gäste aus allen Teilen Deutschlands auf die Ostfriesischen Inseln. Die Borkumer Gäste hatten wenig Verständnis dafür, dass keine Rettungsversuche unternommen wurden, und warfen den Insulanern mangelnden Willen und Gleichgültigkeit vor. Schließlich hätten sie ja nicht mal einen Versuch unternommen. Ob das so stimmte oder nicht, der Vorfall tauchte bald in den Zeitungen auf, löste Debatten aus, und führte schließlich auch zu der Vorstellung, die Inselostfriesen seien grundsätzlich gewissenlos im Umgang mit Schiffbrüchigen und verweigerten jegliche Hilfeleistung. Und die Frage, ob die Insulaner nicht helfen konnten oder nicht helfen wollten, wird auch heute noch kontrovers diskutiert.

Der Umgang mit Strandungen wurde damals noch immer über das jahrhundertealte „Strandrecht“ geregelt. Im Langeooger Strandrecht zum Beispiel, der „Ordinantz“ von 1636 finden sich viele Paragraphen, die sich mit der Bergung und Verteilung von Ladung und Strandgut befassen, aber kein einziger, in dem es um Hilfeleistung für die Schiffbrüchigen geht. So kam es ab und zu vor, dass Überlebende von Insulanern erschlagen wurden, weil sonst ein Teil der Ladung im Besitz des Schiffseigners geblieben wäre. Sogar Leuchtfeuer sollen gelegentlich falsch positioniert worden sein, um Schiffe absichtlich auf Sandbänke zu locken.

Doch auch, wenn sich diese Dinge so zugetragen haben mögen, dann ganz sicher vereinzelt, und ganz sicher in Zeiten großer Not. Dass den Insulanern das Leid der Gestrandeten grundsätzlich egal gewesen sei, und dass sie nie geholfen hätten, ist dagegen Unsinn. Wie hätte sich solch ein Sinneswandel ergeben können, der die gleichen Insulaner nur ein paar Jahre später dazu brachte, sich mit ihren Ruderrettungsbooten unter Lebensgefahr in die Fluten zu stürzen, um Überlebende zu bergen?

Ganz oft konnten die Insulaner einfach nichts machen, so wie auch Pastor Doden aus Spiekeroog berichtet hat. Sie hatten keine Rettungsboote, mit denen man sich auch im Sturm auf See trauen konnte, sie hatten nur einfache Schaluppen und Plattbodenschiffe, oft in schlechter Verfassung, und ganz sicher nicht geeignet für Rettungsfahrten durch schwere See. Und eine Rettung vom Strand aus über die Sandbänke war meistens auch nicht möglich. Oft trennten mehrere hundert Meter eiskalten Wassers die Insulaner von dem gestrandeten Schiff. Es war erst möglich einzugreifen, wenn sich die See beruhigt hatte, oder man das Wrack bei Ebbe zu Fuß erreichen konnte. Da war es meist zu spät.

Die „Schande“, von der Bermpohl sprach, bestand weniger in unterlassener Hilfeleistung, als in der für Strandungsfälle mangelnden Ausrüstung der Insel- und Sielhäfen. Mit der Gründung des „Vereins zur Rettung Schiffbrüchiger an den ostfriesischen Küsten“ durch Georg Breusing, wurde 1861 für Abhilfe gesorgt. Die Rettungsstationen wurden mit Bootsschuppen, Raketenapparat, Hosenboje, und nicht zuletzt einem Ruderrettungsboot ausgestattet. Mit Raketen und Hosenboje ließ sich gegebenenfalls eine Rettung vom Strand aus versuchen, und das Ruderboot war brandungstauglich und konnte mittels eines Pferde-fuhrwerks am Strand zu Wasser gelassen werden.

Die Langeooger Ruderrettungsboote
Langeoog hatte zeitweilig sogar zwei Rettungsstationen. Die erste befand sich ab 1861 im Westen der Insel, die zweite wurde 1872 auf dem Ostende errichtet. Die Rettungsschuppen mussten oft ausgebaut und an neue Ruderrettungsboote angepasst werden.

          1861: Francis-Ruderboot, 30 Fuß lang, zehn Riemen, stationiert im Westen         
        1872: Francis-Ruderboot, 20 Fuß lang, sechs Riemen, stationiert am Ostende      
                         1883: Ruderrettungsboot „Papenburg“, 7,5 Meter lang, 2,46 Meter breit,
                                             0,78 Meter Tiefgang, stationiert im Westen                                        
  1887: Ruderrettungsboot „Reichspost“, 8,5 Meter lang, mit speziellem Transport-    
              wagen, stationiert im Westen, Verlegung der „Papenburg zum Ostende“          
     1899: Die „Papenburg“ wird nach 16 Jahren außer Dienst gestellt. Stattdessen      
                                          Ruderrettungsboot „Dr. G. Krause“ am Ostende                                
    1910: Die „Reichspost“ wird nach 23 Jahren außer Dienst gestellt. Das neue Boot  
                  ist ebenfalls 8,5 Meter lang, und heißt ebenfalls„Reichspost“, es hat               
                        zwölf Riemen, stationiert im Westen. Letzte Fahrt am 5.3. 1942                    

Die Ära der Langeooger Ruderrettungsboote endet im 2. Weltkrieg
Auf Langeoog ging die Ära der Ruderrettungsboote mit einem dramatischen Einsatz am 5. März im kalten Kriegswinter 1942 zu Ende. Seit 1941 war mit der „Hamburg“ zwar bereits zum ersten Mal ein Motorboot auf Langeoog stationiert, das aber lag in Neuharlingersiel im Eis fest. Nordwestlich von Langeoog war im Schneesturm der Lotsendampfer „Rüstringen“ gesunken. Der in der Nähe eingesetzte Minensucher „M255“ versuchte mit Hilfe eines ausgeschickten Rettungsbootes die Besatzung zu bergen, aber bei dem Versuch kenterte auch das Rettungsboot. Das Vorpostenboot „V2001“ nahm einige der gekenterten Retter auf, lief dabei aber selbst auf Grund, und drohte von den Wellen zerschlagen zu werden. Die Langeooger Seenotretter unter Vormann Hillrich Kuper wuchteten zusammen mit 40 Soldaten das Ruderrettungsboot „Reichspost“ über den Eiswall am Strand in die Brandung und kämpften sich bei unter minus 10° C zu den Havaristen vor, wo sie schließlich zwölf Verletzte übernahmen, drei Seeleute aus dem gekenterten Rettungsboot und neun vom festsitzenden Vorpostenbootes. Alle hatten erhebliche Erfrierungen. Der Rückweg war durch das Treibeis aber versperrt, und zusammen mit den Schollen trieb die „Reichspost“ mit Besatzung und Geretteten Richtung Baltrum. Wegen des starken Eisgangs aber war es nicht möglich den Strand zu erreichen, und so blieb am Ende keine Wahl, als es kriechend und untereinander angeleint über die Eisschollen zu versuchen. Das lebensgefährliche Unternehmen gelang, alle zwölf Geretteten überlebten das Unglück. Vormann Hillrich Kuper, der bis 1973 im Amt blieb, erhielt dafür von der DGzRS die „Große Silberne Medaille am Bande“ verliehen, seine tapfere Mannschaft die „Rettungsmedaille am Bande“.

Heute ist nur schwer vorstellbar, unter welchen Strapazen die Seenotretter damals arbeiten mussten. Die Ruderrettungsboote waren zwar speziell für solche Einsätze konzipiert, sind aber kein Vergleich zu den technisch hoch ausgerüsteten Seenotrettungsbooten, die heute an Nord- uns Ostsee stationiert sind. Auch hat sich die Art der Einsätze verändert. Dank besserer Navigationstechnik im Schifffahrtswesen, haben es die Langeooger Retter heute vor allem mit Krankentransporten und Freizeitseglern zu tun. Doch auch für größere Einsätze ist das kleine Rettungsboot „Casper Otten“ geeignet, das im Langeooger Hafen an den legendären Vormann erinnert, der 1920 die Besatzung der Bark „Paul“ rettete.