Peter Kremer M.A. Geogr./Philos.

Der Mythos von der dreigeteilten Insel Langeoog

Dünenschutz früher und heute: ganz schön ähnlich
Einige Dünenschutztechniken, wie das Stecken von Buschfaschinen und anderer Sandfangzäune, oder das Setzen von Strandhafer (Helm) auf unbewachsene Dünenpartien, oder auch das Bauen von Sanddämmen in Dünenlücken haben sich in den vergangenen Jahrhunderten kaum verändert. Neu ist, dass man durch den Einsatz fossiler Energieträger sehr große Mengen Sand in sehr kurzer Zeit bewegen kann. Hätten die Insulaner im 17. Jh. 450.000 Kubikmeter Sand vom Flinthörn zu den Heerenhusdünen transportieren wollen, hätten sie mit ihren Wüppen (Schubkarren) vermutlich ziemlich oft hin- und herlaufen müssen.

Weihnachtsflut 1717: Langeoog in drei Teile zerrissen?
Dünenlücken zu stopfen gab es mehr als genug. Ja es heißt sogar, dass einst in der fürchterlichen Weihnachtsflut 1717 die Insel Langeoog in drei Teile gerissen worden ist, dass der Einbruch des großen und des kleinen Sloops das Melkhörn zu einer Insel haben werden lassen, die nur noch mit dem Boot zu erreichen war ...

Die älteste halbwegs genaue kartographische Darstellung Langeoogs stammt aus dem Jahre 1738, angefertigt von F. Horst im Auftrag der Ostfriesischen Regierung, ist also nicht lange nach der Weihnachtsflut entstanden. Sie scheint die Zerrissenheit zu bestätigen. Das heutige Langeoog ist in dieser Darstellung nur schwerlich wiederzuerkennen, und wenn man genauer hinguckt, sind sogar sechs kleine Inselchen verzeichnet.

Der Sockel hielt Stand
Dennoch ist diese Vorstellung von der Zerrissenheit der Insel falsch. Wären die kleinen Inselchen tatsächlich bei jeder normalen Flut nur mit dem Boot zu erreichen gewesen, dann hätten sich in diesen Bereichen Priele in den Inselkörper gegraben. Geologische Untersuchungen Ende der 1960er Jahre haben jedoch eindeutig gezeigt, dass der Inselsockel Langeoogs unzerschnitten ist (Barckhausen, J.: Entstehung und Entwicklung der Insel Langeoog. In: Oldenburger Jahrbuch, Bd. 68. Oldenburg, 1969, S. 239 - 281). Es war also nicht die Insel zerrissen, sondern lediglich die Dünenzüge. Bei normalen Tiden war das Melkhörn auch bei Flut trockenen Fußes zu erreichen. Anders natürlich bei Sturmfluten, wenn das Wasser sehr hoch kam. Dann floss es ungehindert durch die beiden Sloops hindurch.

In der Karte von 1738 wird in einem der Textteile sogar ausdrücklich darauf hingewiesen. Im Bereich des großen Sloop steht geschrieben: „Sehr große und durchgerißene Stelle, welche mit dem Strande und dem Watt fast gleiche Höhe hat. jedoch so hoch ist, daß das Wasser nur bey extra-ordinairen Fluthen darüber gehet.“

Ursprung des Missverständnisses
Bei so eindeutigen Befunden muss man sich ein bisschen wundern, wie es zu diesem Missverständnis von der geteilten Insel Langeoog kommen konnte. Mindestens zwei Faktoren mögen dazu beigetragen haben:
Zum Einen ist die kartographische Darstellung von 1738 ungeschickt und missverständlich gewählt. Die Umrisse der Dünenpartien stellen nämlich nicht den Wasserstand eines normalen („ordinären“) Hochwassers dar, sondern den Zustand der Insel bei einer sehr schweren („extra-ordinären“) Sturmflut. In einer Karte von 1826, als die Dünenzüge immer noch aus drei Teilen bestanden, ist das besser gelöst, indem hier der Bereich der Sloops genauso gepunktet dargestellt ist wie die übrigen Strandbereiche.

Hoffrogges rätselhafter Irrtum
Zum Zweiten hat sich in eine der bekanntesten dieser Publikationen, in denen die Karte zu sehen ist, ein fataler Fehler eingeschlichen. In seinem Buch „Verwehte Spuren“ (1989) hat Autor Peter Hoffrogge in guter Absicht den schwer leserlichen Text in normaler Druckschrift wiedergegeben, aber aus Versehen ausgerechnet das wichtigste Wort darin vergessen. Er schreibt, dass das Wasser auch „bei ordinären Fluten“ durch die Dünenlücken ströme, aber tatsächlich steht in der Karte geschrieben, dass es eben nur die „extra-ordinairen Fluthen“ seien.

Ergänzte Textzeilen zur Karte von 1738
Interessant ist, dass man bei näherer Betrachtung der Textstelle feststellen kann, dass der zweite Satz ein etwas anderes Schriftbild hat, als der erste, vermutlich also erst nachträglich hinzugefügt wurde. Um herauszufinden, wann und durch wen diese Ergänzung vorgenommen wurde, bedürfte es einer genauen kartographischen Untersuchung. Das Schriftbild insgesamt deutet aber darauf hin, dass der zweite Satz vermutlich schon bald eingefügt worden ist. Es ist wahrscheinlich schnell klar geworden, dass der erste Satz in Zusammenhang mit der kartographischen Darstellung der Strandhöhe zwischen den Dünenzügen zu eben jenem Missverständnis führen könnte, zu dem es schließlich aus ganz anderen Gründen tatsächlich auch gekommen ist.

Die Öffnung der Sloops: Ein Prozess
Auch die Vorstellung, dass sich die beiden Sloops bei der eingangs erwähnten Weihnachtsflut 1717 geöffnet hätten, ist vermutlich so nicht richtig. Einige Quellen deuten darauf hin, dass es wahrscheinlich schon Mitte des 17. Jahrhunderts Öffnungen in diesen Dünenbereichen gegeben hat, die sich danach durch eine Reihe Sturmfluten immer weiter geöffnet haben. Nachweislich die Sturmfluten 1651, 1683, 1685, 1686 und 1715 haben den Langeooger Dünen Schäden zugefügt. Als die Weihnachtsflut 1717 die Küste heimsuchte, werden wohl die paar in den Sloops übrig gebliebenen Dünen nicht viel Widerstand geleistet haben, zumal die Dünen insgesamt damals noch nicht so grün und widerstandsfähig waren wie heute. Bevor die Insel Langeoog so aussah, wie auf der Karte von Horst, gingen noch zwei weitere schwere Sturmfluten über die Insel, nämlich die Neujahrsflut 1720/21 und die Katharinenflut 1736. Die Durchreißung der Langeooger Dünenzüge ist also nicht als ein plötzliches Ereignis zu begreifen, sondern eher als ein Prozess, ausgelöst durch den schlechten Zustand der Dünen und einer Kette verheerender Sturmfluten.

 

Abb. 2: Die Karte von F. Horst aus dem Jahre 1738. Unglückliche graphische Darstellung: Keine sechs Inseln, sondern „nur“ zerrissene Dünenketten. (Aus: Hoffrogge, P.: Verwehte Spuren. Strandungen auf Langeoog. Jever, 1989; Kolorierung: P. Kremer)

 


Abb. 4: Karte Langeoogs von 1826. Die Strandpartie ist durch Punkte gekennzeichnet. (de Wall, K.-H.: Langeoog. Notizen zur Inselgeschichte. Wittmund 1991; Kolorierung: P. Kremer)