Peter Kremer M.A. Geogr./Philos.

Achillesfersen vor der Weihnachtsflut
Die Dünensituation um 1710

Seit den 1970er Jahren ist vor allem das Pirolatal die Achillesferse des Langeooger Dünenschutzes. Doch der Dynamik der landschaftsgestaltenden Kräfte entsprechend, waren es im Laufe der Langeooger Geschichte auch immer wieder andere Stellen, die gefährdet waren. Mal waren es die Süder- oder Kaapdünen im Westen, mal waren es die Dünen rund ums Melkhörn, mal waren es Bereiche des Ostendes.

Um 1710 konnten sich die Langeooger vor Achillesfersen gar nicht retten. Wiederholt schickte die fürstliche Regierung zu Aurich Dünenmeyer auf die Insel, die mit Busch- und Reisigzäunen versuchten, Sand zu fangen und Dünenlücken zu schließen, und durch das „Setzen von Helm im Kreuzverbande“ unbewachsene Dünen zu stabilisieren.

14 Familien wohnten damals auf Langeoog, aber nicht im Westen, sondern im Bereich der Melkhörndünen. Zwei Schifferhütten lagen „im Westen der Mitte“ auf niedrigen, unbewachsenen Dünen, die übrigen Häuser standen auf den „Dünen längs der Kirche“.

Das Melkhörn und die Inselmitte waren damals in einem wahrhaft jämmerlichen Zustand. Und dabei war es gerade mal 10 Jahre her, dass die Insulaner ihre Hütten hier aufgebaut hatten. Vorher hatten sie im Westen gelebt, aber seit 1685 hatte sich dort die Dünensituation so verschlimmert, dass um 1699 ein Umzug schließlich dringend geboten war.

Nördlich und östlich des Dorfes befanden sich ein Meter hohe Reisigzäune, die das Dorf und die Gärten vor dem Flugsand der unbewachsenen Dünenpartien schützen sollten, jedoch schon so weit eingesandet waren, dass der Sand einfach darüber hinweggeweht wurde.

Östlich des Dorfes, ungefähr im Bereich des heutigen kleinen Sloops, gab es zwei niedrige Partien ohne Dünen, die eine 500, die andere 200 Schritt breit. Durch letztere hatten die Dünenmeyer einen „Damm zuwege gebracht“, der Fluten, „die nicht außergewöhnlich hoch waren“, abhalten konnte. Westlich des Dorfes, ungefähr im Bereich des heutigen großen Sloops gab es drei noch größere Dünendurchbrüche, die nicht mehr geschlossen werden konnten.

Die Lage auf der Insel war dramatisch: Immer wieder stellten Insulaner Anträge bei der Regierung, mit ihren Familien die Insel verlassen zu dürfen, weil der Flugsand Weiden, Gärten und Häuser bedeckte. Da den Insulanern ihre Grundstücke nicht gehörten, sondern vom Ostfriesischen Grafen-, bzw. Fürstenhaus gepachtet hatten, musste die Abwanderung von den zuständigen Stellen genehmigt werden … was in aller Regel aber nicht geschah.

1710 flohen deshalb zwei Familien nach Spiekeroog, 1711 eine weitere. Die verbliebenen zehn Familien sollten aber unbedingt auf der Insel gehalten werden, und so schickte die Regierung einen Amtmann, der sich vor Ort ein Bild der Lage machen sollte. Amtmann von Münnicken kam zu dem Schluss, dass es trotz der bedrohlichen Lage in der Mitte der Insel nicht ratsam sei, die Häuser wieder nach dem Westen umzusetzen, wo „die Insel am breitesten und erhabensten und wegen ihrer Situation zu Bewohnen am bequemsten“ war. Der Westen hatte sich zwar offenkundig erholt, aber von Münnicken war der Meinung, dass die Dünen noch nicht wieder ausreichend bewachsen waren, um im Notfall dem Vieh als Nahrung dienen zu können. Eine etwas widersinnige Anordnung, bedenkt man, wie wichtig es der Regierung war, dass die Insulaner auf der Insel blieben. Die Bewohner harrten also aus, und schrieben weiter fleißig Anträge – wie zum Beispiel Meent Eden im Jahre 1712 – die Insel verlassen zu dürfen.

Noch bis zum Sommer 1717 hielten es die Insulaner am Melkhörn aus, dann siedelten sie ihre Hütten wieder auf dem Westen an. Kirche und Pfarrhaus jedoch blieben an Ort und Stelle. Ob sie eine Genehmigung für den Umzug hatten, oder ob es sich hier um einen Akt des Ungehorsams handelte, geht aus unseren Quellen nicht hervor, fest steht aber, dass der Umzug einigen Familien das Leben gerettet haben dürfte.

Denn in der Weihnachtsnacht 1717 wurde die ostfriesische Küste von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht. An der Festlandsküste brachen fast überall die Deiche, es gab ungezählte Tote, und es sollte Jahrzehnte dauern, ehe sich Ostfriesland von dieser Katastrophe erholt hatte.

Auf Langeoog strömten bei der Weihnachtsflut die Fluten ungehindert durch die Dünenlücken in der Inselmitte. In der Heiligen Nacht 1717 war das Melkhörn eine Insel, Kirche und Pfarrhaus stürzten ein. Aber es gab keine Menschenleben zu beklagen. Der Westen der Insel hatte der Sturmflut offenbar weitestgehend standgehalten.

Dennoch war Langeoog danach so dermaßen verwüstet, dass sechs weitere Familien nach der Weihnachtsflut die Insel verließen, obwohl die Verhältnisse auch auf dem Festland katastrophal waren. Die übrigen vier Familien harrten zunächst aus, ehe nur vier Jahre später, in der Sylvesternacht 1720/21 erneut eine sehr schwere Sturmflut Küste und Insel traf, und sie daraufhin ebenfalls die Insel verließen. Zwei Jahre lang blieb Langeoog gänzlich unbewohnt, ehe es erneute Versuche gab, die schwer gezeichnete Insel wieder zu bewirtschaften.