Peter Kremer M.A. Geogr./Philos.

Die Inselinspektion von 1711
Der Drost meint: Wider alle Vernunft am Melkhörn bleiben

Vor drei Jahrhunderten, im Jahre 1711, inspizierte der junge Esenser Drost Christian Wilhelm von Münnich die Insel Langeoog, um sich ein Bild vom Zustand der Dünen zu machen. Das kleine Dorf lag damals im Bereich der heutigen Melkhörndünen, in ihrer Mitte eine kleine, gerade mal fünf Jahre alte Kirche. Die Lebensbedingungen waren insbesondere wegen des Flugsandes so schlecht, dass die Insulaner lieber die Insel verlassen, als – wie in der Vergangenheit schon öfter geschehen – wieder mal ihre Hütten versetzen wollten. Weil sie in der Regel nicht aus ihren Pachtverträgen entlassen wurden, waren im Jahr zuvor einige Familien nach Spiekeroog geflohen. Der Westen Langeoogs, den die Insulaner erst 1699, also vor gerade mal zwölf Jahren, verlassen hatten, entwickelte sich dagegen sehr gut. Dennoch riet der Drost den Insulanern von einem erneuten Umzug dorthin ab. Je länger die Insulaner am Melkhörn blieben, so argumentierte er, desto stabiler werde der Westen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie vielleicht endlich dauerhaft dort bleiben konnten.

Ein versteckter Grund: Die neue Kirche
Aber vielleicht ist das nicht der einzige Grund gewesen, von dem sich der Drost in seiner Entscheidung hat leiten lassen. Schon beim letzten Umzug 1699 war es zu Auseinandersetzungen zwischen den Insulanern und ihrem Pastor Böttcher gekommen, weil diese sich verweigert hatten, neben ihren eigenen Häusern auch noch die Kirche und das Pfarrhaus zu versetzen, und diese stattdessen im Westen zurückließen. Im Gegensatz zu den Insulanerhäusern waren beide aus Stein gebaut, und deshalb viel schwerer ab- und wieder aufzubauen. Außerdem mochten die Insulaner ihren Pastor nicht, und hatten so oder so etwas besseres zu tun, als diesem zu helfen. Nach längerer Auseinandersetzung wurde dann bei einer Kirchenvisitation beschlossen, dass das alte Gotteshaus sowieso baufällig sei, und die Insel deshalb eine neue Kirche erhalten sollte. Pastor Böttcher wurde auf Kollektenreise geschickt, um Gelder für den Neubau zu sammeln, aber weil ihm das aus verschiedenen Gründen nur mäßig gelang, konnte der Kirchbau schließlich erst 1706 vollendet werden.
Als die Insulaner 1711 die Melkhörndünen verlassen wollten, und sich Drost von Münnich ein Bild der Lage machte, war die Kirche also gerade mal fünf Jahre alt. Es ist gut vorstellbar, dass Pastor Böttcher deshalb gegen einen erneuten Umzug ist, bei dem seine schöne neue Kirche zunächst wieder einmal zurückgelassen worden wäre. Zumal schon jetzt, da die Häuser der Insulaner in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche standen, kaum jemand zum Gottesdienst kam, ganz sicher würde niemand mehr kommen, wenn die Insulaner dafür bei Wind und Wetter ein paar Kilometer weit hätten gehen müssen. Vielleicht hat Pastor Böttcher seinerseits den Drosten bedrängt hat, die Insulaner von einem erneuten Umzug in den Westen der Insel abzuhalten. Überliefert ist das allerdings nicht.

Rechtzeitiger Umzug
Die Insulaner blieben noch bis zum Sommer 1717 in den Melkhörndünen, dann zogen sie wieder auf das "Westerende" der Insel, und ließen Kirche und Pfarrhaus in den Melkhörndünen zurück. Als am Weihnachtsabend eine fürchterliche und opferreiche Sturmflut über der südlichen Nordsee tobte, stürzten auch die Langeooger Kirche und das Pfarrhaus ein. Die Insulaner aber waren auf dem stabileren Westen mit dem Schrecken davongekommen, dennoch verließen sieben von elf Familien die Insel. Nach einer weiteren schweren Sturmflut nur drei Jahre später in der Sylvesternacht 1720/21 verließen auch die letzten vier Familien die Insel. Zum ersten mal seit der Besiedlung im 13. Jahrhundert war Langeoog wieder unbewohnt. Zwei Jahre später gab es einen neuen Besiedlungsversuch durch Familien aus Helgoland, der aber nur 13 Jahre später im Jahre 1736 scheiterte. Noch im gleichen Jahr siedelten sich Familien aus Bensersiel auf Langeoog an, und seitdem ist die Insel ununterbrochen hauptsächlich im Westen besiedelt.

Das historische Inselbewusstsein
Obwohl die heute alteingesessenen Langeooger Familien auf die dritte Langeooger Siedlungsphase zurückgehen, die noch im gleichen Jahr 1736 begann – die Familien kamen aus Bensersiel und den nahegelegenen Marschen – , spielen die Geschehnisse vor 300 Jahren für das Selbstverständnis der Langeooger eine große Rolle. Dabei sind es vor allem die große Armut, die Düneneinbrüche im großen und kleinen Sloop, die Weihnachtsflut, der unbeliebte Pastor Böttcher, und schließlich die "Entvölkerung" der Insel, die sich tief im historischen Bewusstsein der Langeooger oder in ihrer kulturellen Identität verankert haben.