Peter Kremer M.A. Geogr./Philos.

Langeoog in der fürchterlichen Weihnachtsflut 1717
Eine ausgemalte Geschichte basierend auf historischen Tatsachen

 

Am Weihnachtsabend 1717 läutete der Langeooger Pastor Christian Böttcher zum Gottesdienst, aber keiner der Insulaner folgte seinem Ruf. Natürlich hätten sie Freude gehabt an einem feierlichen Weihnachtsgottesdienst in der geschmückten Kirche, im Glanze der Kerzen, die Luft gefüllt mit dem süßen Duft des brennenden Bernsteins ... draußen aber stürmte und regnete es recht heftig aus Südwest, und bis zur Kirche waren es immerhin rund vier km, und man musste das große Sloop durchqueren, das bei diesem Sturm vielleicht später sogar überflutet sein würde. Viel zu gefährlich.

Zumal sie einen feierlichen Gottesdienst sowieso nicht erwarten konnten. Pastor Böttcher war wie schon sein Vorgänger ein eher unversöhnlicher Prediger, der nicht müde wurde, ihnen Maßlosigkeit vorzuwerfen und sie zur Umkehr zu treiben, weil sonst das Strafgericht Gottes über sie käme, und niemand würde übrig bleiben, außer denen, die sich um seine Kirche scharrten. Manchen Insulanern verweigerte er gar das Abendmahl, wenn diese in all zu "rohem und wüsten" Zustand dem Gottesdienst beiwohnten. Jesus selbst habe gesagt, man dürfe das Heiligtum nicht den Hunden geben, argumentierte er dann. Er durfte sich nicht wundern, wenn die Insulaner dem Gottesdienst nicht selten fern blieben.

1699: Die Insulaner lassen die Kirche zurück
Und seit dem Sommer war es nur noch schlimmer geworden, hatten sie es doch gewagt, ihre Hütten vom Melkhörn wieder zurück in den Westen zu setzen und den Pastor und seine Kirche samt Pfarrhaus einfach am Melkhörn zurückzulassen.

Und das musste der arme Pastor jetzt schon zum zweiten Mal erleben. 1699, als die Kirche noch im Westen stand, waren sie zum Melkhörn gezogen. Und weil der damals schon unbeliebte Pastor mal wieder nicht auf der Insel weilte, kümmerten sie sich nicht um Kirche und Pastorei. Die Kirche war sowieso ziemlich baufällig. Böttcher hatte getobt und schließlich eine Kirchenvisitation beantragt. Die Visitoren machten sich ein Bild von der Lage und beschlossen einen Neubau am Melkhörn. Die Gelder dazu sollte der Pastor auf Kollektenreisen eintreiben. Das war den Insulanern nur Recht. Bis 1702 sahen sie ihn nur wenig, und in Vertretung kam oft Pastor Hillardus Immen, der schon von 1683 bis 1695 das Predigeramt innehatte, und bei den Insulanern sehr beliebt war.

Mit unverminderter Stärke drückte der Sturm gegen Wände, Türen und Fenster. Den ganzen Tag war es nicht richtig hell geworden, die Tiere in den Hausställen waren unruhig. Manch ein Hausvater wagte sich hinaus, um die Windrichtung zu prüfen. Ein unheilvolles Dröhnen lag in der Luft, das Brausen des Sturms und das Rauschen der Brandung der nahenden Flut. Der Sturm hatte noch an Stärke zugenommen, aber solange er aus Südwest blies, würde vielleicht noch mal alles gut gehen. Hier im Westen waren die Dünen einigermaßen stabil, das Melkhörn dagegen in schlechter Verfassung. Es war gut, dass sie sich im Sommer zum Umzug entschlossen hatten, wer weiß ob das Melkhörn heute Abend dem Blanken Hans standhalten würde?

Pastor Böttcher: eine nunmehr 20 Jahre währende Plage
20 Jahre lang plagten sie sich jetzt schon mit dem Pastor Böttcher rum, und was hatten sie in der Zeit nicht alles erlebt. Schon sein Vorgänger Johann Husius war ihnen mit seinem missionarischen Eifer auf die Nerven gefallen, aber der war wenigstens nach nur zwei Jahren wieder verschwunden. Der Böttcher von Föhr aber war noch um einiges schlimmer, und er blieb und blieb ...

Gleich bei seinem Amtsantritt 1697 hatte er sich von seiner besten Seite gezeigt. Erst wollte er gar nicht auf die Insel übersiedeln, weil ihm Kirche und Behausungen zu armselig waren, bis er von Amts wegen dazu gezwungen wurde, und dann forderte er gleich als erstes sechs Taler Einzugsgeld von den Insulanern. Als die sich weigerten zu zahlen, weil sie doch selbst kaum genug zum Leben hatten, da schaltete Böttcher sogleich das Amt in Esens ein, bekam Recht, und die Insulaner mussten nachher sogar das Doppelte, also 12 Taler bezahlen.

Seine Predigten waren auch nicht gerade erbaulich. Böttcher kam aus Dänemark und sprach nur mangelhaft Deutsch, geschweige denn Ostriesisch. Oft verstanden sie ihn gar nicht, wenn er auf der Kanzel stand und gegen die Gemeinde wetterte. Und eine allzu hohe Bildung hatte er, der seine berufliche Laufbahn als Soldat begonnen hatte, wohl auch nicht genossen. Er war des Lesens und Schreibens nur einigermaßen kundig, und er erstaunte die Insulaner immer wieder durch seine eigenartigen Bibelauslegungen. Seit ein paar Jahren verstand er sich immer mehr als Verkünder von Zeichen, die das nahe Ende ankündigten. Vor allem die Fastnachtsflut, die Strandung der Bark "Hoffnung" und die Viehseuche 1715 hatten es ihm angetan. Der Zorn Gottes sei nicht mehr fern, war er überzeugt. Es war vielleicht gut, dass sie nicht alles verstanden, was er ihnen zu sagen hatte.

Weihnachtsstimmung wollte am Heiligen Abend 1717 nicht aufkommen. Im Sturm polterte es um die Häuser herum, die Wände wackelten, und Regen spritzte gegen die kleinen Fenster. Wenn nur das Dach halten würde ... Die Hausfrauen hatten so gut es ging versucht, die Hütten festlich einzurichten, und ein paar Leckereien auf den Tisch zu bringen. Manch ein Hausvater hatte vielleicht sogar noch einen guten Wein im Hause, denn die Bark "Hoffnung", die da 1715 gestrandet war, war aus Bordeaux gekommen und hatte feinsten französischen Wein an Bord. Der Pastor betrachtete die Strandung der "Hoffnung" zwar als Zeichen des Unheils, aber trotzdem hatte er sich natürlich den größten Teil des Weines für sich genommen. Der Strandvogt stand in dieser Sache nicht auf ihrer Seite, denn seit ein paar Jahren wurde das Amt von Böttchers Sohn ausgefüllt. Seitdem war es für die Insulaner noch ungemütlicher geworden. Nun waren sie dem Pastoren und seiner Familie gänzlich ausgeliefert.

Strandvogt Siebrand: Ein Widersacher
Gerne dachten sie an Vogt Mense Siebrand zurück, der im gleichen Jahr wie Pastor Böttcher, also 1697, sein Amt antrat. Der stand wirklich auf der Seite der Insulaner und war ein starker Widersacher gegen den Pastor. 1702 zum Beispiel, als Böttcher auf Kollektenreise war, hatte es eine Strandung gegeben, und Vogt Siebrand hatte sich der Idee, das Strandgut ohne Berücksichtigung des Pastors aufzuteilen, schnell angeschlossen. Wer nicht anwesend war, konnte auch kein Recht auf Strandgut haben. Das sah der Pastor, der bald drarauf zurückkam, natürlich anders, und leider auch die Gerichtsbarkeit in Esens, und so mussten sie ihm nicht nur seinen Teil aushändigen, sondern der Vogt Siebrand obendrein noch drei Goldgulden Strafe zahlen.

1705 endete die Amtszeit des Strandvogtes vorzeitig. Weil er nicht verhindert hatte, dass bei einer Strandung am Nordstrand Männer aus Westerakkumer- und Dornumersiel den Langeoogern bei der Bergung zuvorkamen, wurde der Vogt durch die Drostei in Esens in Arrest genommen. Die beiden Sielorte gehörten, wie auch Baltrum, zum Norderland, Langeoog und Esens aber zum Harlingerland. Dem Amt zu Esens war deshalb ein Teil des ihm zustehenden Strandgutes entgangen. Die Insulaner aber empfanden die Strafe als unverhältnismäßig, zumal sie auf den Beistand des Vogtes nicht gut verzichten konnten. Aber ein Antrag, unterzeichnet von allen 11 Hausvätern, ihn wieder ins Amt zu setzen, wurde abgelehnt. Strandvogt Mense Siebrand kehrte nicht mehr auf die Insel zurück.

Die Geräuschkulisse um die Insulanerhäuser herum änderte sich. Das permanente metallene Schlagen und Knarren hatte nachgelassen, jetzt schlug der Wind böig aus West und Nordwest. Und es war noch einige Stunden bis zur höchsten Flut ... Die Zaghaften fragten sich, ob der Pastor nicht doch die Zeichen richtig gedeutet hatte. Aber was war dann dieser Sturm? Ein weiteres Zeichen, oder schon der Beginn der Endzeit? Half jetzt nur noch beten?

Aber die Hausväter beruhigten. Sie hatten im Sommer gute und hohe Plätze für ihre Hütten ausgewählt, im Schutze stabiler Randdünen. Selbst wenn das Wasser von den Meeden her ihre Hütten erreichen würde, würden sie wohl kaum mehr als nasse Füße bekommen. Wenn Unheil drohte, dann eher der Kirche und der Pastorei, die am Melkhörn nur schlecht geschützt waren. Es war wirklich leichtsinnig, von diesem starrköpfigen Pastoren, nicht in den Westen überzusiedeln. Und heute Abend waren er und seine Familie vielleicht in Gefahr. Der Pastor mochte zwar ein unangenehmer Zeitgenosse sein, aber das durfte natürlich trotzdem nicht sein. Also schickten sie ein paar junge Burschen los, um die Familie in den sichereren Westen zu holen, oder ihnen zumindest zu helfen, wenn es galt, Hab und Gut in Sicherheit zu bringen.

Hoffentlich hielten die Dünen am Melkhörn, denn auch abgesehen von der Sicheheit der Pastorenfamilie wäre der Verlust der Kirche bitter. Sie war ja gerade mal 11 Jahre alt und wirklich hübsch, und als Bauwerk konnte sie ja nichts dafür, dass der Pastor so ein übler Mensch war.

Der Bau der Kirche von 1702 bis 1706
Ganze sechs Jahre hatte es gedauert, ehe der Kirchbau 1706 endlich feierlich eingeweiht werden konnte. Dass das so lange gedauert hatte, war allein die Schuld des Pastors. Von seinen Kollektenreisen brachte er kaum Geld mit, weil er offenbar unterwegs einen recht teuren Lebensstil pflegte. Darüber hinaus gab seine zurück gebliebene Frau offen zu, dass der Pastor mitnichten nur zum Kollektieren aufgebrochen sei, sondern auch um die Menschen zum rechten Glauben zu bewegen. Und als sei das noch nicht genug, hatte er zuletzt versucht, einen Teil des gesammelten Geldes als ihm zustehenden Lohn zu unterschlagen. Erst als aus Strandgeldern und Kollekten ein Baufonds eingerichtet wurde, kamen die Arbeiten in Gang. Am Ende war ein recht ansehnliches Kirchlein aus Stein entstanden, gleichwohl sparsam eingerichtet, aber durchaus ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen konnte, wenn der Pastor nicht gerade auf der Kanzel stand und predigte.

Die Kirche maß 28 x 21 Fuß (10 x 7 Meter), hatte ein Giebeldach, und darauf aufgesetzt sogar ein kleines Glockentürmchen. Die Glocke hatte ihnen Fürst Christian Eberhard persönlich zum Geschenk gemacht. Er hatte sie dem Torfhaus der Burg Berum bei Hage entnommen.

Ihre Häuser hatten sie um die Kirche herum gruppiert. Westlich die Hütten der Schiffer, östlich die übrigen Hütten mit ihren Gärten. Wäre ihr Leben nur nicht so beschwerlich, und die Dünenlage nicht so unsicher gewesen, sie hätten mehr Freude an diesem eigentlich ganz idyllischen Fleckchen haben können. Heute Abend aber, ausgerechnet in der Heiligen Nacht, stand die Kirche ganz alleine da in diesem fürchterlichen Sturm.

Der Wind hatte jetzt mit einer Wucht auf Nordwest umgeschlagen, von denen die Insulaner überrascht wurden. Das Dröhnen hatte seinen Klang geändert. Immer deutlicher mischte sich das Geräusch tobender Brandung in das Dröhnen in der Luft. Selbst die alten Insulaner konnten sich nicht an einen solchen Sturm erinnern. Die Frauen blickten sorgenvoll, in mancher Hütte sang man mit den Kindern gegen die Angst an.

Die jungen Burschen kehrten zurück. Sie hatten erschrockene Gesichter. Das Wasser stand jetzt schon deutlich höher, als sie es so lange vor höchstem Wasserstand für möglich gehalten hätten. Der Weg zur Kirche war bereits versperrt, die Fluten strömten ungehindert durch alle Dünenlücken hindurch. So hoch standen die Fluten, dass das Melkörn sicher schon, einer Insel gleich, auf allen Seiten von den Wassern eingeschlossen war. Sehen konnten sie nichts. Aber in unvermuteten Windlöchern hörten sie die Glocke schlagen, was ein gutes Zeichen war. Gleichwohl war es längst nicht mehr der Pastor, der da läutete, sondern der Sturm, der an dem Glockengiebel rüttelte.

Im Westen jedoch hielten die Dünen im Augenblick noch stand. Allerdings war auch hier bereits das gesamte Grünland überflutet, und das Wasser stand nicht nicht mehr weit von ihren Hütten zu Füßen der Dünen. Die Insulaner bereiteten sich auf den Ernstfall vor. Sie sicherten ihre wichtigste Habe unter den notdürftig ausgebauten Dächern, und verstauten dort obendrein noch Lebensmittel und Decken. Für das Vieh konnten sie nicht viel tun. Nein, so hatten sie sich den Weihnachtsabend nicht vorgestellt.

1710: Die Lage am Melkhörn ist ernst
Nur ein paar Jahre, nachdem die Kirche eingeweiht worden war, hatte sich die Lage am Melkhörn schon wieder verschlimmert. Jeden Winter war es zu Dünenabbrüchen gekommen, und der Flugsand war ärger denn je. Sie hatten die Entwicklung ohne Frage falsch eingeschätzt, damals, als sie vor gut zehn Jahren hierher gezogen waren. Sie hatten das Melkhörn für stabiler gehalten. Der Westen dagegen hatte sich in der Zwischenzeit ganz gut erholt, und es gab kaum neue Dünenabbrüche zu beklagen.

Trotzdem wollten einige Familien lieber ganz weg, als wieder in den Westen zu ziehen. Doch ihre Anträge, aus den Pachtverträgen entlassen zu werden, wurden abgelehnt. Die Regierung wollte verhindern, dass die anderen Insulaner ihrem Beispiel folgen könnten, und dann die Insel bald ganz entvölkert wäre. Im Frühjahr 1710, nach einem sturmflutreichen Winter, flohen drei Familien nach Spiekeroog, wo die Dünen um das Dorf herum umso vieles stabiler waren. Das blieb dem Amt in Esens natürlich nicht verborgen, und schon bald visitierte deswegen der Drost Christian Wilhelm von Münnich die Insel. Er war erst 24 Jahre alt, und hatte just gerade erst das Amt von seinem Vater Anton Günther übernommen.

Die Insulaner bedrängten ihn, die Insel verlassen zu dürfen, zumal es jetzt mit Vogt Böttcher Jun. nicht besser geworden war, zumindest aber solle er ihnen erlauben, die Hütten wieder in den Westen zu setzen, auch wenn sie dann die Kirche vorerst wieder zurücklassen mussten. Der Pastor war mit dem einen wie dem anderen nicht einverstanden, und bestand darauf, dass die Siedlung am Melkhörn nicht aufgegeben werden sollte. Er fürchtete um das Seelenheil seiner Schäfchen, wenn sie sich nicht in unmittelbarem Schutze der Kirche tummelten, und die Unken würden schon sehen, dass am Ende nur die steinerne Burg Christi dem Untergang entgehen werde.

Der junge Drost war um einen Kompromiss bemüht. Der Westen solle sich erst noch ein paar Jahre erholen, meinte er, damit er dann endgültig genutzt werden konnte, und das ständige Umziehen ein Ende haben würde. Die Dünen am Melkhörn seien zwar durchaus in bejammernswertem Zustand, aber mit Hilfe der Dünenmeyer und dem Glück von vielleicht zwei, drei sturmflutarmen Wintern könnte man das Melkhörn vielleicht noch einige Jahre lang halten. Pastor Böttcher war mit dem Kompromiss sehr zufrieden, so mancher Hausvater aber hielt ihn für ein gefährliches Spiel auf Zeit. Östlich und westlich des Dorfes waren die Dünenzüge voller Lücken. Schon im nächsten Winter konnten ihre Hütten untergehen. Aber sie hielten sich an die Empfehlung des Drosten, und harrten am Melkhörn aus.

1715: Die Fastnachtsflut verbreitert die Dünenlücken
Fünf Jahre lang war das einigermaßen gut gegangen. Die Lage hatte sich am Melkhörn zwar nicht verbessert, aber immerhin nicht zusätzlich verschlimmert. Die letzten Jahre war der Flugsand der größere Feind, als schwere Sturmfluten, vor denen sie einigermaßen verschont blieben. Weidland und Gärten aber waren zentimeterdick mit Sand bedeckt, und so manche Hauswand ächzte unter der Last wandernder Dünen. Aber nach wie vor wurden all ihre Anträge, die Insel verlassen zu dürfen, abgelehnt. 1715 aber, zur Fastnacht, wurde das Melkhörn von einer Sturmflut schwer getroffen. Die Lücken in den Dünen verbreiterten sich erheblich , und zwischen dem Westen und der Mitte der Insel waren kaum mehr als ein paar Dünenreste übrig geblieben. Die Fluten waren gefährlich nahe an die Kirche und die Hütten herangekommen.

Es machte wirklich keinen Sinn mehr, am Melkhörn zu bleiben, das sah jetzt auch Drost von Münnich ein. Der Pastor aber blieb beharrlich, und schlimmer als je zuvor wetterte er von der Kanzel herab. Dennoch waren sie im Sommer 1717 endlich in den Westen gezogen. Die Frau des Pastoren wäre am liebsten mit den Kindern mitgegangen, denn im Gegensatz zu ihrem Mann war sie sich längst nicht mehr so sicher, ob sie am Melkhörn bleiben wollte, schon gar nicht jetzt, da sie die einzige Familie dort waren.

1717: Eine fürchterliche Weihnacht
Und nun, kaum dass der erste Winter nach dem Umzug angebrochen war, wurden sie von einem solchen Sturm heimgesucht, wie sie ihn noch nicht erlebt hatten. Und das ausgerechnet ausgerechnet am Weihnachtsabend. Die Häuser der Insulaner wackelten und rumpelten bedrohlich, aber sie stürzten nicht ein. Die Dünen hielten die Wellen und einen Großteil des Windes auf. Aber durch die Dünenlücken und von der Wattseite her stieg das Wasser immer höher, bis es schließlich auch in die Häuser eindrang, und sich die Insulaner unters Dach retten mussten. Sie hatten sich zwar vorbereitet, aber dennoch waren das bange Stunden für alle. Wie ging es wohl den Verwandten jetzt, in Bensersiel und den anderen Marschendörfern? Ob die Deiche dieser mächtigen Sturmflut gewachsen waren?

Die ganze Nacht ließ der Sturm nicht nach, und erst im Morgengrauen war die Flut soweit gewichen, dass die Hütten langsam wieder trockenfielen. Sobald es möglich war, versammelten sich viele Insulaner an den Heerenhusdünen und spähten sorgenvoll zum Melkhörn hinüber. Da konnten sie die Familie in der Ferne winken sehen. Gott sei Dank, es sah aus, als hätten alle die Nacht gut überstanden. Und es schien, als hätten sie Sack und Pack dabei, als warteten sie darauf, abgeholt zu werden. Noch immer lag das Melkhörn da wie eine Insel, aber das Wasser zog sich langsam zurück, und so trauten sich zwei der Hausväter mit Wüppen hinüber, um den Pastor und seine Familie zu holen.

Je näher sie kamen, desto mehr konnte man den Schrecken sehen, der ihnen im Gesicht geschrieben stand. Sie hatten ebenfalls eine Nacht unter dem Dach der Pastorei hinter sich, aber die Fluten waren so gewaltig von Westen und von Osten durch die maroden Dünen gestürzt, dass schon früh die Wände brachen, und sie nur noch auf einem hölzernen Gerüst über den Fluten kauerten. Als dann noch die Dachpfannen fortflogen, saßen sie fast im Freien, und versuchten sich so gut es ging mit Decken gegen Sturm und Regen zu schützen.

Und als der Morgen schon gar nicht mehr fern war, und sie allmählich Hoffnung schöpften, da mussten sie mit ansehen, wie unter dumpfem Poltern auch noch die Kirche in sich zusammenstürzte. Ausgerechnet die Kirche, das steinerne Bollwerk gegen die Ungläubigen, von wo aus der Pastor den Insulanern das Strafgericht Gottes verkündet hatte, als einziges von allen Gebäuden auf der Insel eingestürzt. Im Grunde war seine Mission gescheitert, denn wie sollte er die Insulaner fortan glaubwürdig drängen können, umzukehren und Buße zu tun? Sicher würde er viel Spott hören müssen. Und jetzt mussten er und seine Familie auch noch von diesen Ungläubigen abgeholt werden ...

Kein Wort sprach der Pastor, als er bibbernd in der Wüppe saß, aber seine Frau und Kinder redeten alle durcheinander, froh, sich gleich in irgendeiner Hütte auf dem Westen um ein Feuer scharen und aufwärmen zu können. Und war es nicht ein weihnachtliches Wunder, dass alle diese fürchterliche Flutnacht fast unbeschadet überstanden hatten?

(Anm.: Diese Geschichte beruht auf historisch verbürgten Personen und im Wesentlichen auch auf wahren Ereignissen, sowie auf geographisch-historischen Erkenntnissen, ist im Ganzen aber ausgedacht. Nicht geklärt ist z.B., ob die Pastorenfamilie die Weihnachtsflut 1717 tatsächlich am Melkhörn verbracht, oder sich vorher rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat.)